Psychosoziale Belastungen und Erkrankungen bei Menschen mit STI

Eine vernachlässigte Dimension der Gesundheitsversorgung
Gastbeitrag von Dr. Armin Bader, Bochum
Sexuelle Gesundheit umfasst nach Definition der WHO nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, sondern auch „sexuelles Wohlbefinden, Lebensqualität, Selbstbestimmung, Selbstakzeptanz und Empowerment“. Dennoch führen sexuell übertragbare Infektionen (STI) in Deutschland zu erheblichen psychosozialen Belastungen, die häufig vernachlässigt werden. Dieser kurze Artikel beschreibt die komplexen Wechselwirkungen zwischen STI-Infektionen und psychischer Gesundheit sowie aktuelle Versorgungsdefizite und Lösungsansätze.
Psychosoziale Belastungsfaktoren bei STI-Erkrankungen
1. Stigmatisierung und Diskriminierung
Menschen mit STI erleben häufig soziale Ausgrenzung und leiden unter internalisierter Scham. Eine Studie der LMU München mit 2.110 Jugendlichen zeigte alarmierende Wissenslücken: Über 40 % kannten nicht einmal die Übertragungswege von HIV. Besonders betroffen waren männliche Jugendliche und Schüler nicht-gymnasialer Schulformen. Dieses Unwissen korrelierte signifikant mit diskriminierenden Haltungen gegenüber HIV-positiven Menschen. Die Stigmatisierung wird durch unzureichende Aufklärung und die Verbreitung von Fehlinformationen in sozialen Medien – insbesondere auf Plattformen wie TikTok – verstärkt. (1)
2. Angstinduzierte Belastungsstörungen
Die Diagnose einer chronischen STI wie HIV oder HPV löst bei vielen Betroffenen existenzielle Ängste aus. Studien belegen erhöhte Raten von:
a. Generalisierten Angststörungen (25-40 % der Neu-Diagnostizierten)
b. Depressionen (20-35 %)
c. Sexuellen Vermeidungsverhalten (bis zu 30 %)
Besonders belastend ist die Sorge vor Partnerablehnung und die Ungewissheit über die eigene Fertilität oder Krebsrisiken (z. B. bei HPV).
3. Mehrfachbelastungen vulnerabler Gruppen:
Trans* und nicht-binäre Menschen erleben eine Kumulation von Belastungen:
a. Minoritätenstress: Diskriminierungserfahrungen im Gesundheitswesen und Alltag
b. Strukturelle Barrieren: Fehlende Angebote für trans-Menschen in der Sexualaufklärung
c. Intersektionale Vulnerabilität: Besonders junge Menschen mit Migrationshintergrund oder aus sozioökonomisch benachteiligten Gruppen sind betroffen (das SeBiCo-Projekt der Deutschen Aidshilfe dokumentiert, dass 78 % dieser Gruppe diskriminierende Erfahrungen in medizinischen Einrichtungen machen.) (2)
Folgen für die psychische Gesundheit
Die psychosozialen Belastungen münden häufig in manifeste Erkrankungen:
a. Chronifizierung psychischer Symptome: Unbehandelte Angststörungen oder Depressionen führen bei 30 % der Betroffenen zu Berufsunfähigkeit oder sozialem Rückzug.
b. Somatische Wechselwirkungen: Psychischer Stress schwächt das Immunsystem und kann den Verlauf von HIV oder HPV-Infektionen negativ beeinflussen.
c. Therapiebarrieren: Internalisiertes Stigma verhindert bei 40-60 % der Betroffenen die Inanspruchnahme psychosozialer Hilfe.
Besonders kritisch ist die Situation Jugendlicher: Die COVID-19-Pandemie hat bereits bestehende psychosoziale Belastungen verstärkt. Laut dem „Monitor Bildung und psychische Gesundheit“ (BiPsy-Monitor) (3) zeigen sich bei Jugendlichen heute, dass „wichtige Kompetenzen sich nicht so entwickelt haben, wie es für ein psychisch gesundes Aufwachsen notwendig ist, zum Beispiel die sozialen Kontakte“. Bei STI-Betroffenen potenzieren sich diese Entwicklungsdefizite.
Versorgungsdefizite und innovative Lösungsansätze
Defizite im Gesundheitssystem:
a. Lange Wartezeiten: Ø: > 6 Monate für Psychotherapieplätze
b. Mangelnde Fachkompetenz: nur 15 % der Psychotherapeut*innen haben Expertise im STI-Kontext (!)
c. Unzureichende Prävention: Schulen bieten zu wenig sexualpädagogische Angebote – besonders nicht-gymnasiale Schulformen sind benachteiligt.
Innovative Versorgungsmodelle:
1. Das Integrierte Zentren für sexuelle Gesundheit (z. B. „Walk In Ruhr, Zentrum für Sexuelle Gesundheit und Medizin“ in Bochum) (4).
Dieses Zentrum bietet eine vorbildliche Kombination von medizinischer Testung, fachärztlicher Behandlung, psychosozialer Beratung (AIDS-Hilfe Bochum), Psychologische Psychotherapie und Sexualtherapie durch Psychotherapeut*innen mit fachspezifischen Zusatzausbildungen und queersensible Angebote inklusive trans*-spezifischer Begleitung.
2. Peer-to-Peer-Ansätze (SeBiCo-Projekt):
a. Entwicklung von Trainingscurricula durch trans* und nicht-binäre Expert*innen
b. Förderung von „Selbsterfahrung und Körperaneignung“ sowie „konsensbasierter Sexualität“
c. Empowerment durch selbstorganisierte Präventionsformate
3. Digitale Aufklärungsstrategien:
a. Zielgruppen-gerechte Formate (z. B. HPV-Aufklärungsflyer für Jugendliche)
b. Evidenzbasierte Social-Media-Kampagnen
Handlungsempfehlungen: Forderungen an Politik und Praxis
1. Flächendeckender Ausbau niedrigschwelliger Beratungsstellen mit integrierten medizinisch-psychosozialen Angeboten (Bsp. WIR -Zentrum Bochum)
2. Verpflichtende sexualpädagogische Curricula für alle Schulformen unter Einbeziehung von:
a. wissenschaftlicher fundierter STI-Aufklärung
b. Entstigmatisierungs-Strategien
c. Trauma-sensibler Sexualerziehung
3. Spezialisierungsförderung für Psychotherapeut*innen:
a. Zertifizierte Weiterbildungen zu „STI und psychische Gesundheit“
b. Vergütungsmodelle für psychosoziale STI-Beratung
Exkurs: Tatsächlich erlebt das WIR Zentrum bei seinen jährlichen Fachtagen „HIV und Psyche“ (seit 2011) ausgerechnet bei der Psychotherapeutenkammer NRW starke Vorbehalte: So verweist die Kammer bei der Vergabe von Fortbildungspunkten seit Gründung der Fachtage auf die Ärztekammer NRW (diese vergeben Fortbildungspunkte für „HIV und Psyche“), verweigert aber selbst die Vergabe von CME-Punkten bei Präsentationen von Psychologischen Psychotherapeut*innen mit der Begründung, es würden auch andere Berufsgruppen referieren - u.a. natürlich auch people living with HIV (PLHIV) (!).
4. Stärkung partizipativer Forschung
a. Finanzierung von Community-basierten Studien mit vulnerablen Gruppen
b. Entwicklung trans*-inklusiver Versorgungsforschung
Sexuelle Gesundheit als Menschenrecht verwirklichen
Die psychosozialen Folgen von STI-Erkrankungen sind kein Randphänomen, sondern betreffen jährlich hunderttausende Menschen in Deutschland. Wie das WIR - Zentrum und das LMU-Klinikum betont muss Sexualität „frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt“ sein. Dies erfordert einen systematischen Ausbau zielgruppenspezifischer Unterstützungsangebote und die konsequente Entstigmatisierung sexuell übertragbarer Infektionen. Nur durch die Integration medizinischer, psychosozialer und präventiver Ansätze lässt sich das WHO-Ziel sexueller Gesundheit als „fundamentales Menschenrecht“ verwirklichen. Die vorgestellten Modelle zeigen, dass eine inklusive, empowernde Versorgung möglich ist – nun gilt es, diese Erkenntnisse flächendeckend umzusetzen.
Quellen:
- AG zur psychosozialen Gesundheit von Jugendlichen, Klinik und Poliklinik für Dermatologie und Allergologie, LMU Klinikum (www.lmu-klinikum.de).
- SeBiCo-Projekt: Sexuelle Bildung für trans und nicht-binäre Menschen (Deutsche Aidshilfe) (www.aidshilfe.de)
- BiPsy-Monitor: Psychosoziale Belastungen von Kindern und Jugendlichen (Universität Leipzig) (www.erzwiss.uni-leipzig.de)
- Potthoff, A., Skaletz-Rorowski, A., Nambiar, S. et al. Sexuelle Gesundheit und Medizin im WIR – Walk In Ruhr: Vorstellung des Zentrums und Ergebnisse der Evaluation. Bundesgesundheitsbl 64, 1011–1019 (2021). doi.org/10.1007/s00103-021-03382-1
Zur Person:
Dr. phil. Armin Bader ist Psychologischer Psychotherapeut und Psychoonkologe und gründete gemeinsam mit Prof. Dr. med. Norbert Brockmeyer und Prof. Dr. Martin Hautzinger die Psychosoziale Sektion der Deutschen AIDS Gesellschaft (DAIG e.V.). Er arbeitet in der Abteilung und Ambulanz für Psychodermatologie und Psychoonkologie an der Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie am Universitätsklinikum St. Josef-Hospital in Bochum. Die Ambulanz bietet stationäre und ambulante psychosoziale und psychotherapeutische Begleitung, Diagnostik und Behandlung für Patientinnen und Patienten mit Hauttumorerkrankungen, systemischen Hauterkrankungen (Kollagenosen), mit schweren und komplexen rheumatischen Erkrankungen (Rheuma-Komplextherapie), mit Berufsdermatosen und für Menschen mit HIV und AIDS an.