Let’s talk (more) about sex! STI in Deutschland – Interview mit Prof. N. Brockmeyer
Steigende Zahlen in Deutschland: Risiken sexuell übertragbarer Infektionen (STI) werden unterschätzt
Prof. Dr. med. Norbert Brockmeyer, Präsident der Deutschen STI Gesellschaft, beschreibt im Interview die aktuelle STI-Situation in Deutschland, betont die Wichtigkeit einer frühen Diagnostik und Therapie und erklärt, was sich Patientinnen und Patienten von ihren Ärztinnen und Ärzten wünschen: Offene Gespräche über sexuelle Gesundheit.
Frage: Welche Bedeutung haben sexuell übertragbare Infektionen (STI) in Deutschland?
Prof. Norbert Brockmeyer (NB): Die Bedeutung von STI steigt jährlich mit der Zunahme der Infektionen an. Dabei geht es nicht nur um die aktuell symptomatischen Menschen, sondern um Tabuisierung, Stigmatisierung. Zudem führen die chronischen Infektionen zu Spätkomplikationen wie Infertilität und die Initiierung von Tumoren.
Frage: Was sind hierzulande die verbreitetsten STI? Wie entwickeln sich die Zahlen?
NB: Die verbreitetsten bakteriellen STI sind Chlamydien-, Neisseria Gonorrohoea- und Treponema pallidum-Infektionen. Bei den viralen Infektionen sind das Humane Papilloma- und Herpes simplex Virus führend. Die Infektionen haben sich in den letzten 20 Jahren im Schnitt verzehnfacht. Bei der Syphilis von 800 auf über 8000 im Jahr.
Frage: Welche Effekte hatte die COVID-19-Pandemie mit dem damit verbundenen „Social Distancing“ und der generellen Einschränkung persönlicher Kontakte?
NB: Die SarsCoV-2-Pandemie hat weitestgehend zu einer Reduzierung von sexuellen Kontakten geführt, bis hin zur Monogamie und Abstinenz. Allerdings hat es eine große Gruppe von Menschen gegeben, die in privaten Zirkeln weiterhin vielfältige sexuelle Kontakte pflegten. In vielen Zentren, wie im WIR („Walk in Ruhr“ – Zentrum für Sexuelle Gesundheit und Medizin in Bochum), wurde eine deutlich höhere (bis zu 28%!) Infektionsrate registriert. Die Zahlen des Robert Koch-Instituts (RKI) belegen dies nicht. Dies könnte an den Schließungen von Testeinrichtungen im Öffentlichen Gesundheitsdienst und „Checkpoints“ (das sind auf sexuelle Gesundheit spezialisierte Beratungseinrichtungen, in denen das Testen im Vordergrund steht) in dieser Zeit gelegen haben.
Frage: Wie ordnet sich die Zahlen hierzulande in einem globalen Kontext ein?
NB: Die deutschen Zahlen der STI sind quasi ein Spiegel der internationalen Entwicklung, insbesondere in Amerika findet sich eine dramatisch hohe Syphilis-Rate mit 243 000 Infektionen und 543 konnatalen Todesfällen in 2022.
Frage: Welche Bedeutung haben bei STI eine frühe Diagnose und eine früh einsetzende Therapie?
NB: Bei den STI haben wir einen Tripleeffekt, individuell, gesellschaftlich und ökonomisch. Viele der Infektionen werden erst spät diagnostiziert, da sie symptomlos oder unspezifisch sind. Die Folge davon ist, dass Infizierte die Erreger unwissentlich an ihre Sexualpartnerinnen und -partner weitergeben. Steigende Infektionszahlen führen zu mehr akuten und chronischen Erkrankungen. Durch Spätdiagnosen erhöht sich somit die Prävalenz in der Bevölkerung und damit das Infektionsrisiko, also auch die Inzidenz und die Krankheitskosten für das Gesundheitssystem. Frühdiagnosen sind also eine Voraussetzung, neben Aufklärung, Kondomnutzung und einer medikamentösen Prävention, um die zurzeit bestehende Epidemie einzugrenzen. Dabei ist die Einbindung der Partner, Partnerinnen z.B. auch durch anonyme Benachrichtigung (Partner notification), essenziell.
Frage: Wie können Dermatologinnen und Dermatologen stärker für die Themen sensibilisiert werden? Wo gibt es möglicherweise Aufklärungsdefizite?
NB: Dermatologinnen und Dermatologen sind aufgrund der vielfältigen Symptome von STI an Haut und Schleimhäuten eine berufene Fachgruppe für Diagnostik und Therapie von STI! Aber die Aufklärungsdefizite sind, nicht nur in unserem Fach, momentan noch sehr groß. Um diese zu beheben wäre z.B. die Teilnahme von Dermatologinnen und Dermatologen am Curriculum Sexuelle Gesundheit oder durch den Erwerb der Zusatzbezeichnung Sexualmedizinhttps://seminare.akademie-wl.de/index.cfm?seite=veranstaltungsliste&l=4334 sehr hilfreich. Wir müssen Wege finden, wissenschaftliche Informationen in einer „lockeren Weise“ (durch Präsensveranstaltungen, digitale Fortbildungsformate, über Spots und gut gemachte Kurzvideos) an die Frau und den Mann zu bringen.
Frage: Was sind die besonderen Herausforderungen im Umgang mit Patientinnen und Patienten, die an einer STI erkrankt sind?
NB: Die besonderen Herausforderungen sind, dass wir diese Patientinnen und Patienten genauso wie alle anderen behandeln, d.h. ohne Tabus, ohne Vorurteile und ohne Stigmatisierung. Dies ist in einer Welt, in der Sexualität und damit verbundene Infektionen immer noch tabuisiert sind, sehr schwierig. Wir müssen den Menschen das Gefühl vermitteln, dass sie mit uns über Alles reden und unserer Hilfe sicher sein können. Zudem sollten wir niedrigschwellige Angebote schaffen. Wichtige Fragen finden sich zum Beispiel im Risikotest des WIR. [Link einfügen: risikotest.wir-ruhr.de/index.php/246443]
Frage: Was können Dermatologinnen und Dermatologen im Bereich von Primär- und Sekundärprävention tun? Was empfehlen Sie den Kolleginnen und Kollegen?
NB: Es geht um sexuelle Gesundheit und hier ist die Dermatologie besonders gefordert, nicht nur in Bezug auf die STI, sondern auch im Kontext der vielen Erkrankungen z.B. Psoriasis, Herpes simplex, die oft zu einer Einschränkung der Sexualität führen, was mitunter mit großen Traumata bei den Betroffenen und depressiven Symptomen einhergeht.
Das Wichtige ist aber – und über 90% unserer Patientinnen und Patienten wünschen es sich – dass wir mit Ihnen über Sexualität reden, dass wir wie bei jedem anderen Thema offen, respektvoll reden, den Rat- und Hilfesuchenden zuhören. STI gehören zur Lebenswirklichkeit, diese ist jedoch leider immer noch stark tabuisiert und stigmatisiert.
Vielen Dank für das Interview!
Zur Person:
Prof. Norbert Brockmeyer ist Präsident der Deutschen STI Gesellschaft und Gründer des Zentrums für sexuelle Gesundheit und Medizin „WIR Walk In Ruhr“.
Literatur:
Brockmeyer NH, Potthoff A, Knebel-Brockmeyer W, et al. Sexualverhalten und Prävention sexuell übertragbarer Infektionen unter Berücksichtigung der SARS-CoV-2-Pandemie. Daten aus einem Versorgungszentrum für sexuelle Gesundheit und Medizin – WIR. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 2021 Nov;64(11):1440-1451. doi: 10.1007/s00103-021-03441-7. (open access https://link.springer.com/article/10.1007/s00103-021-03441-7)
Potthoff A, Skaletz-Rorowski A, Nambiar S et al. Sexuelle Gesundheit und Medizin im WIR – Walk In Ruhr: Vorstellung des Zentrums und Ergebnisse der Evaluation. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 2021 Aug;64(8):1011-1019. doi: 10.1007/s00103-021-03382-1. (open access https://link.springer.com/article/10.1007/s00103-021-03382-1)
Frage: Was sind hierzulande die verbreitetsten STI? Wie entwickeln sich die Zahlen?
NB: Die verbreitetsten bakteriellen STI sind Chlamydien-, Neisseria Gonorrohoea- und Treponema pallidum-Infektionen. Bei den viralen Infektionen sind das Humane Papilloma- und Herpes simplex Virus führend. Die Infektionen haben sich in den letzten 20 Jahren im Schnitt verzehnfacht. Bei der Syphilis von 800 auf über 8000 im Jahr.
Frage: Welche Effekte hatte die COVID-19-Pandemie mit dem damit verbundenen „Social Distancing“ und der generellen Einschränkung persönlicher Kontakte?
NB: Die SarsCoV-2-Pandemie hat weitestgehend zu einer Reduzierung von sexuellen Kontakten geführt, bis hin zur Monogamie und Abstinenz. Allerdings hat es eine große Gruppe von Menschen gegeben, die in privaten Zirkeln weiterhin vielfältige sexuelle Kontakte pflegten. In vielen Zentren, wie im WIR („Walk in Ruhr“ – Zentrum für Sexuelle Gesundheit und Medizin in Bochum), wurde eine deutlich höhere (bis zu 28%!) Infektionsrate registriert. Die Zahlen des Robert Koch-Instituts (RKI) belegen dies nicht. Dies könnte an den Schließungen von Testeinrichtungen im Öffentlichen Gesundheitsdienst und „Checkpoints“ (das sind auf sexuelle Gesundheit spezialisierte Beratungseinrichtungen, in denen das Testen im Vordergrund steht) in dieser Zeit gelegen haben.
Frage: Wie ordnet sich die Zahlen hierzulande in einem globalen Kontext ein?
NB: Die deutschen Zahlen der STI sind quasi ein Spiegel der internationalen Entwicklung, insbesondere in Amerika findet sich eine dramatisch hohe Syphilis-Rate mit 243 000 Infektionen und 543 konnatalen Todesfällen in 2022.
Frage: Welche Bedeutung haben bei STI eine frühe Diagnose und eine früh einsetzende Therapie?
NB: Bei den STI haben wir einen Tripleeffekt, individuell, gesellschaftlich und ökonomisch. Viele der Infektionen werden erst spät diagnostiziert, da sie symptomlos oder unspezifisch sind. Die Folge davon ist, dass Infizierte die Erreger unwissentlich an ihre Sexualpartnerinnen und -partner weitergeben. Steigende Infektionszahlen führen zu mehr akuten und chronischen Erkrankungen. Durch Spätdiagnosen erhöht sich somit die Prävalenz in der Bevölkerung und damit das Infektionsrisiko, also auch die Inzidenz und die Krankheitskosten für das Gesundheitssystem. Frühdiagnosen sind also eine Voraussetzung, neben Aufklärung, Kondomnutzung und einer medikamentösen Prävention, um die zurzeit bestehende Epidemie einzugrenzen. Dabei ist die Einbindung der Partner, Partnerinnen z.B. auch durch anonyme Benachrichtigung (Partner notification), essenziell.
Frage: Wie können Dermatologinnen und Dermatologen stärker für die Themen sensibilisiert werden? Wo gibt es möglicherweise Aufklärungsdefizite?
NB: Dermatologinnen und Dermatologen sind aufgrund der vielfältigen Symptome von STI an Haut und Schleimhäuten eine berufene Fachgruppe für Diagnostik und Therapie von STI! Aber die Aufklärungsdefizite sind, nicht nur in unserem Fach, momentan noch sehr groß. Um diese zu beheben wäre z.B. die Teilnahme von Dermatologinnen und Dermatologen am Curriculum Sexuelle Gesundheit oder durch den Erwerb der Zusatzbezeichnung Sexualmedizin sehr hilfreich. Wir müssen Wege finden, wissenschaftliche Informationen in einer „lockeren Weise“ (durch Präsensveranstaltungen, digitale Fortbildungsformate, über Spots und gut gemachte Kurzvideos) an die Frau und den Mann zu bringen.
Frage: Was sind die besonderen Herausforderungen im Umgang mit Patientinnen und Patienten, die an einer STI erkrankt sind?
NB: Die besonderen Herausforderungen sind, dass wir diese Patientinnen und Patienten genauso wie alle anderen behandeln, d.h. ohne Tabus, ohne Vorurteile und ohne Stigmatisierung. Dies ist in einer Welt, in der Sexualität und damit verbundene Infektionen immer noch tabuisiert sind, sehr schwierig. Wir müssen den Menschen das Gefühl vermitteln, dass sie mit uns über Alles reden und unserer Hilfe sicher sein können. Zudem sollten wir niedrigschwellige Angebote schaffen. Wichtige Fragen finden sich zum Beispiel im Risikotest des WIR.
Frage: Was können Dermatologinnen und Dermatologen im Bereich von Primär- und Sekundärprävention tun? Was empfehlen Sie den Kolleginnen und Kollegen?
NB: Es geht um sexuelle Gesundheit und hier ist die Dermatologie besonders gefordert, nicht nur in Bezug auf die STI, sondern auch im Kontext der vielen Erkrankungen z.B. Psoriasis, Herpes simplex, die oft zu einer Einschränkung der Sexualität führen, was mitunter mit großen Traumata bei den Betroffenen und depressiven Symptomen einhergeht.
Das Wichtige ist aber – und über 90% unserer Patientinnen und Patienten wünschen es sich – dass wir mit Ihnen über Sexualität reden, dass wir wie bei jedem anderen Thema offen, respektvoll reden, den Rat- und Hilfesuchenden zuhören. STI gehören zur Lebenswirklichkeit, diese ist jedoch leider immer noch stark tabuisiert und stigmatisiert.
Vielen Dank für das Interview!
Zur Person:
Prof. Dr. med. Norbert Brockmeyer ist Präsident der Deutschen STI Gesellschaft und Gründer des Zentrums für sexuelle Gesundheit und Medizin „WIR Walk In Ruhr“.
Literatur:
Brockmeyer NH, Potthoff A, Knebel-Brockmeyer W, et al. Sexualverhalten und Prävention sexuell übertragbarer Infektionen unter Berücksichtigung der SARS-CoV-2-Pandemie. Daten aus einem Versorgungszentrum für sexuelle Gesundheit und Medizin – WIR. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 2021 Nov;64(11):1440-1451. doi: 10.1007/s00103-021-03441-7. (open access https://link.springer.com/article/10.1007/s00103-021-03441-7)
Potthoff A, Skaletz-Rorowski A, Nambiar S et al. Sexuelle Gesundheit und Medizin im WIR – Walk In Ruhr: Vorstellung des Zentrums und Ergebnisse der Evaluation. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 2021 Aug;64(8):1011-1019. doi: 10.1007/s00103-021-03382-1. (open access https://link.springer.com/article/10.1007/s00103-021-03382-1)