Mehr Wissen über Seltene Erkrankungen (SE) durch eindeutige KodierungFür Kliniken jetzt verpflichtend – für Praxen wünschenswert: Kodierung von SE anhand der Alpha-ID-SE
Seltne Erkrankungen „sichtbarer“ machen, den nationalen und internationalen Austausch voranbringen, Diagnose und Therapie verbessern sowie eine leistungsgerechte Vergütung nachhaltig stützen: Das sind die Ziele der seit 1. April 2023 für Kliniken gültigen Pflicht, SE anhand der Alpha-ID-SE zu kodieren. Die Verknüpfung von Diagnosen und Orpha-Kennnummern schafft Transparenz bei der Versorgung von Menschen mit SE und hilft, ihre Behandlung zu verbessern.
Eine Erkrankung gilt als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen von ihr betroffen sind. Auf der Basis dieser Definition der Europäischen Union werden derzeit über 6.000 Erkrankungen als selten eingestuft. Schätzungen gehen davon aus, dass es in Deutschland vier Millionen Menschen mit einer Seltenen Erkrankung gibt. SE sind häufig komplexe Krankheitsbilder mit chronischem Verlauf. Daher ist es besonders wichtig zu wissen, wie häufig sie sind, wie sie erkannt und behandelt werden und wer in Bezug auf die Diagnostik und Therapie eine besondere Expertise anbieten kann.
Ein wichtiger Baustein für die Erfassung von Krankheitsdaten ist die Abrechnung erbrachter Leistungen von Leistungserbringern bei den Krankenkassen. Das ICD-10 GM (internationale statistische Klassifikation der Krankheiten, German Modification) ist die amtliche Klassifikation für Diagnosen in der ambulanten und stationären Versorgung in Deutschland. Es erlaubt aber nur für wenige SE eine eindeutige Identifikation.
Eine nicht-eindeutig klassifizierbare SE ist nicht nur nachteilig hinsichtlich der Abrechenbarkeit. Die „Unsichtbarkeit“ der SE behindert die Forschung, die Behandlung und auch die Epidemiologie. Zudem bleiben Versorgungs- und Finanzierungsbedarfe unklar, Vernetzung und Austausch werden erschwert.
Vorgeschichte: über zwei Jahrzehnte Engagement
Erkannt worden ist diese Problematik bereits vor über 20 Jahren. Eine Empfehlung des Rates der europäischen Union im Jahr 2009 machte den Anfang. Durch eine geeignete Klassifizierung und Kodierung sollten die SE in den einzelstaatlichen Gesundheitssystemen stärker in den Fokus gerückt werden. Im Jahr 2010 wurde das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) als nationale Koordinierungs- und Kommunikationsplattform gegründet. Der dann 2013 entwickelte Nationale Aktionsplan für Menschen mit SE initiierte ein Projekt für die einheitliche und standardisierte Kodierung durch die Verbindung des ICD-10 GM mit Orpha-Kennnummern. Diese wiederum sind Bestandteile einer von der internationalen Referenzdatenbank für SE „Orphanet“ entwickelten Nomenklatur. Für die eindeutige Kodierung Seltener Erkrankungen werden sogenannte ORPHAcodes beziehungsweise Orpha-Kennnummern verwendet.
Das vom Bundeministerium für Gesundheit (BMG) geförderte Projekt hatte zum Ziel, SE in digitalen Datensystemen sichtbar zu machen. Verknüpft werden sollten ICD-10 GM und ORPHAcodes mithilfe der Datei Alpha-ID des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI), einer nachgeordneten Behörde des BMG.
Das Alpha-ID-SE-Verzeichnis
2020 veröffentlichte das Institut den um die Orpha-Kennnummern aus dem Orphanet ergänzten Katalog: Das Alpha-ID-SE-Verzeichnis. Neben dem ICD-10 GM-Kode stehen zusätzlich ORPHAcodes für Diagnosebezeichnungen von SE. Die Alpha-ID-SE wird jedes Jahr vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) aktualisiert und veröffentlich. (Das DIMDI wurde 2020 in das BfArM eingegliedert.)
Die gesetzliche Grundlage für die jetzt verpflichtende Kodierung Seltener Erkrankungen anhand der Alpha-ID-SE ist das im Juni 2021 in Kraft getretene Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz (DVPMG). Darin wurde für den stationären Bereich festgelegt, dass SE eindeutig mithilfe der Orphanet-Kennnummer zusätzlich zur Schlüsselnummer der ICD-10-GM kodiert werden sollen.
Kodierungspflicht bringt Transparenz
Mit der Kodierung anhand der Alpha-ID-SE werden SE im deutschen Gesundheitssystem sichtbarer. Diese Transparenz ist zu begrüßen, da sie Versorgung und Forschung voranbringt.
Besonders relevant sind diese Neuerungen für die Zentren für Seltene Erkrankungen, da der Gemeinsame Bundesausschuss in der Zentrums-Regelung verbindliche Vorgaben für Mindestmengen angegeben hat.
Im Katalogjahr 2023 wurde die Zahl der unmittelbar kodierbaren SE auf 6.654 Entitäten mit 11.621 Verknüpfungen erweitert. Kritiker bemängeln, dass die veröffentlichten Kataloge noch beträchtliche Lücken aufwiesen und es bis zum Abschluss der Revision nicht gerechtfertigt sei, Abrechnungsdaten der Kliniken zum Nachweis der Erfüllung von Mindestmengen für die Zentren für SE zu nutzen. Eben dieses gelte auch für Rechnungsabweisungen der Krankenkassen oder Rechnungsprüfungen durch den Medizinischen Dienst.
Zwischenzeitlich hat eine Revision inklusive Korrektur und Vervollständigung unter der Leitung von Dr. Ulf Dennler (Deutsche Gesellschaft für Medizincontrolling, DGFN) begonnen, ein Prozess der durch das BfArM gemeinsam mit der Hochschulmedizin, Fachgesellschaften und dem Verbund der Zentren für SE die bestehenden Katalogsysteme betrieben wurde und kontinuierlich weiterverfolgt wird.
Um ein umfassendes Gesamtbild Seltener Erkrankungen zu erlangen, wäre es wünschenswert, wenn diese auch im ambulanten Bereich durch die entsprechende eindeutige Kodierung erfasst würden, zumal Menschen mit SE relativ selten eine Aufnahme in der Klinik benötigen, sondern häufig jahrelang ambulant versorgt werden.
Literatur:
Martin T, Rommel K, Thomas C et al. Seltene Erkrankungen in den Daten sichtbar machen – Kodierung. Bundesgesundheitsbl 2022 · 65:1133–1142. doi.org/10.1007/s00103-022-03598-9
Dennler U. Die Kodierung Seltener Erkrankungen. Der Anfang ist gemacht. KU Gesundheitsmanagement 1/2023
Weitere Informationen zu Zentren:
Das Forum „Seltene Erkrankungen der Haut“ der DDG hat die Übersicht "Zentren und Expertinnen/Experten für seltene Erkrankungen der Haut" erstellt. In der alle im Forum organisierten Zentren vorgestellt werden.
https://derma.de/fileadmin/PDF-Dateien/DDG_Seltene_Erkrankungen_der_Haut_in_Deutschland_F.pdf